- Zeitgeschichte: Wandel im 20. Jahrhundert
- Zeitgeschichte: Wandel im 20. JahrhundertWir stehen am Ende eines Jahrhunderts, dessen vielfältiges Geschehen sich nicht mehr in einem Zugriff anschaulich verdichten lässt. Aus europäischer Perspektive liegt es nahe, von der Epoche der beiden Weltkriege zu sprechen; diese haben das zurückliegende Jahrhundert nachhaltig geprägt und die politischen Strukturen im Innern der Staaten ebenso sehr wie die Bedingungen des internationalen Staatensystems entscheidend verändert sowie den gesellschaftlichen Wandel beschleunigt.Der Erste Weltkrieg begann als europäischer Kontinentalkrieg, der sich an den nationalen Konflikten auf dem Balkan entzündet hatte, die in den vorausgegangenen Balkankriegen nur vorläufig stillgelegt, aber nicht ausgeräumt worden waren. Sie wären peripher geblieben, hätte nicht der Gegensatz der Großmachtinteressen des zaristischen Russland und des Habsburgischen Reichs, der schon in der Meerengenfrage 1908/09 anschaulich zum Ausdruck gekommen war, ihnen europäisches Gewicht verschafft. Das galt zugleich für die Rückwirkungen der südslawischen Frage auf die inneren Verhältnisse Österreich-Ungarns. Die Ermordung des habsburgischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 durch großserbische Nationalisten löste unmittelbar die Julikrise aus, in der vor allem Großbritannien noch zu vermitteln suchte, und führte mit den Kriegserklärungen Österreich-Ungarns an Serbien, des Deutschen Reichs an Russland und Frankreich sowie der britischen Kriegserklärung geradewegs zu einem europäischen Krieg.Der Krieg zwischen den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn einerseits, Frankreich, Großbritannien und Russland andererseits, in den Italien 1916, ein Jahr darauf die USA an der Seite der Entente eintraten, begann als europäischer Hegemonialkonflikt und weitete sich schließlich zu einer globalen Auseinandersetzung aus, die über Europa hinaus griff. Einerseits nutzte Japan die Chance, die deutschen Kolonien in China und im Stillen Ozean zu erobern und Druck auf China zur Übergabe Shandongs auszuüben. Andererseits traten die Türkei, Bulgarien und Rumänien aus unterschiedlichen Motiven an die Seite des Zweibunds, während Italien und Griechenland nach längerem Zögern die Entente unterstützten. Der europäische Krieg wurde somit zum Weltkrieg und setzte zugleich den Prozess der Entkolonialisierung machtvoll in Gang.Die Niederlage der Mittelmächte, die nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten unabwendbar war, schuf die Chance einer europäischen und globalen Neuordnung. Die Kriegsziele der Alliierten bestanden nicht allein in der Zerschlagung der deutschen Hegemoniepläne in Mitteleuropa, sondern zielten darauf ab, dem demokratischen Prinzip zum Durchbruch zu verhelfen und zu einer internationalen Friedensordnung auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker und des Abbaus von Handelsschranken zu gelangen. Sie fanden ihren Ausdruck in dem von Präsident Woodrow Wilson verkündeten Programm der Vierzehn Punkte, das namentlich bei den unterlegenen Mittelmächten beträchtliche Illusionen hervorrief.Tatsächlich führte die Zerschlagung der multinationalen Großstaaten — des zaristischen Russland, des Osmanischen Reichs und der Habsburgischen Monarchie — nicht zur Schaffung homogener Nachfolgestaaten und nicht zu einer Befriedung der nationalen Konflikte. Die Zielsetzung der Pariser Vorortverträge, das Prinzip des homogenen Nationalstaats auf dem europäischen Kontinent durchzusetzen, scheiterte auf der ganzen Linie. Einerseits erwies es sich, dass teils wegen bereits eingegangener Verträge — so wegen des Londoner Vertrags, der Italien Gebietserweiterungen auf Kosten Österreich-Ungarns zugestand —, teils aus strategischen Erwägungen die neuen Grenzziehungen die Entstehung von nationalen Minderheiten zur Folge hatten. Andererseits konnte die Absicht, national homogene Staaten zu schaffen, aufgrund der in Mittel- und Osteuropa allenthalben anzutreffenden nationalen Überschichtung nicht umgesetzt werden. Die in den Vorortverträgen vereinbarten Minderheitenschutzabkommen waren in erster Linie dazu gedacht, vorhandene nationale Spannungen abzubauen und dadurch mittelfristig die Assimilation der nationalen Minderheiten zu erreichen. Es war gerade nicht daran gedacht, den Minderheiten einen körperschaftlichen Status zu geben und sie insoweit innenpolitisch handlungsfähig zu machen.Die Durchsetzung des nationalstaatlichen Prinzips auf der Grundlage der Pariser Vorortverträge hat sich nicht bewährt. Die davon erhoffte politische Stabilisierung der östlichen Vielvölkergebiete blieb aus. Es wurden neue Minderheitenkonflikte hervorgerufen, deren sich die faschistischen Diktatoren alsbald bedienten, um die 1919 geschaffene Ordnung aus den Angeln zu heben. Von den damals neu geschaffenen nationalen Einheiten sind zuerst die baltischen Staaten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 wieder entstanden — allerdings lebten hier nun noch mehr Nationalitäten nebeneinander —, und nur aufgrund internationaler Intervention ist im Allgemeinen ein Rückfall in gewaltsame Assimilationspraktiken unterbunden worden.Gleichzeitig sind eine Reihe der 1919 geschaffenen Nationalstaaten nach der Auflösung des Ostblocks wieder zerfallen, wie die Tschechoslowakei und Jugoslawien. Aber auch die gegenwärtig weitgehende Föderalisierung zuvor einheitlicher Nationalstaaten, wie insbesondere Belgien, weist darauf hin, dass der Typus des klassischen Nationalstaats, wie er sich im 19. Jahrhundert allgemein durchgesetzt hat, rückläufig ist und einerseits durch supranationale Strukturen aufgehoben, andererseits durch das Vordringen von Regionalismen unterlaufen wird: Am Ausgang des 20. Jahrhunderts zeigt sich überall in Europa ein Vordringen älterer nationaler oder regionaler Bestrebungen, so in der baskischen, der walisischen, der galizischen Frage und bezüglich der Autonomiebestrebungen Schottlands.Die Pariser Friedensordnung erwies sich von den Tagen ihrer Entstehung an als politisch instabil. Mit dem Marsch auf Fiume 1919 unter der Führung Gabriele D'Annunzios setzte der italienische Faschismus seinen unaufhaltsam scheinenden Aufstieg bis zur endgültigen Durchsetzung der Diktatur Benito Mussolinis 1925/26 fort. Schon zu Beginn der Zwanzigerjahre zerbarst das parlamentarische System in Ungarn, das seine beherrschende Rolle im europäischen Südosten eingebüßt hatte. Es folgte Polen, das 1926 unter Józef Pi&łsudski den Kurs eines semiautoritären Regimes beschritt; einen solchen Weg schlugen die Mehrzahl der Nachfolgestaaten Russlands und Österreich-Ungarns sowie die Königsdiktaturen auf dem Balkan ein. Nur die Tschechoslowakei hielt wegen ihrer engen außenpolitischen Anlehnung an Frankreich vorläufig am parlamentarischen System fest, um es nach der Münchener Konferenz im September 1938 ebenfalls preiszugeben.Desgleichen erwies sich das parlamentarische Prinzip auch in Frankreich als brüchig, nicht zuletzt wegen der bürgerlichen Reaktion auf die Volksfrontregierung Léon Blums. Es verwundert daher nicht, dass mit der Niederlage gegenüber dem Deutschen Reich im Juni 1940 auch die französische Dritte Republik mit der Errichtung des Vichy-Regimes in die Reihe der mehr oder minder autoritär regierten kontinentalen Regime einscherte, zu denen die semifaschistischen Regierungssysteme in Spanien und Portugal hinzutraten. Nur die Beneluxländer und die skandinavischen Staaten, die seit langem nach Großbritannien ausgerichtet waren, behielten die parlamentarische Regierungsform bei.Der von Präsident Wilson in dessen Vierzehn Punkten angekündigte Neuanfang, der ein nationalstaatlich gegliedertes und demokratisch gelenktes Europa zum Ziel hatte, scheiterte somit auf der ganzen Linie. Dessen erklärte Absicht, die bisherigen nationalstaatlichen Interessengegensätze in einer internationalen Friedensordnung auszugleichen, die mit der Bildung des Völkerbunds Gestalt annahm, erwies sich von Anfang an als illusionär. Abgesehen davon, dass die Pariser Friedensregelungen durch zahlreiche Geheimverträge zwischen den Mittelmächten präjudiziert wurden, die die korrekte Anwendung des wilsonschen Selbstbestimmungsrechts der Völker unterliefen, wirkte sich die innenpolitisch bedingte Entscheidung der USA, dem Völkerbund nicht beizutreten und damit nicht mehr als maßgebende Garantiemacht aufzutreten, in einer zunehmenden Schwächung der Autorität des Völkerbunds aus.Die russische Oktoberrevolution und die Machteroberung der Bolschewiki hatten zudem zur Folge, dass die Stabilisierung des östlichen Mitteleuropa und die Schaffung eines Cordon sanitaire gegenüber den übrigen Friedensregelungen in den Vordergrund traten. Diese Faktoren erleichterten es den aufstrebenden faschistischen Systemen Deutschlands und Italiens, sich der Fesseln der Pariser Friedensregelungen zu entledigen und zu einer aggressiven Außenpolitik überzugehen. Der Niedergang des Völkerbunds konnte auch nicht durch die zunächst vom Westen verweigerte Aufnahme der Sowjetunion im Jahr 1934 aufgehalten werden. Er spiegelte sich darin, dass Großbritannien und Frankreich frühzeitig zu dem von den faschistischen Diktatoren bevorzugten System bilateraler Abkommen übergingen. Die Hoffnung auf einen Neuanfang in der internationalen Politik, die man bei Abschluss der Pariser Verträge gehabt hatte, ging daher nur begrenzt in Erfüllung. Auch die Ächtung des Angriffskriegs, die mit dem Briand-Kellogg-Pakt 1928 vollzogen wurde, hat kriegerische Auseinandersetzungen in und außerhalb Europas nicht eindämmen können.Die Konflikte brachen zunächst an der Peripherie auf. In der Türkei mündete die Revolution von Mustafa Kemal Atatürk, der den Friedensvertrag von Sèvres brach, in neue nationale Unterdrückung, nicht zuletzt in eine Verschärfung der kurdischen Frage. Die anhaltenden griechisch-türkischen Spannungen wurden 1923 durch einen umfassenden türkisch-griechischen Bevölkerungsaustausch nur äußerlich beigelegt. Tatsächlich wurde hiermit ein grundsätzlich verfehlter Weg eingeschlagen, denn die Schaffung ethnisch homogener Zonen musste in den durch Überschichtung unterschiedlicher Volksgruppen geprägten ostmittel- und osteuropäischen Räumen nur zu neuen Verwerfungen und Gegensätzen führen, die bis in die unmittelbare Gegenwart reichen.Das wichtigste äußere Ergebnis des Ersten Weltkriegs bestand in einer grundlegenden politischen Gewichtsverlagerung zugunsten der USA, denen gegenüber auch die siegreichen Westmächte in finanzpolitische und ökonomische Abhängigkeit gerieten. Die sich spätestens seit 1917 abzeichnende Globalisierung der militärischen Operationen beschleunigte den sich schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert abzeichnenden Prozess der Entkolonialisierung und begünstigte den Aufstieg Japans und Chinas zu Weltmächten. Die schrittweise Auflösung des britischen und französischen Kolonialreichs war von dem Bestreben der USA und später Japans nach Schaffung eigener Großraumzonen begleitet, das die weltpolitischen Konstellationen des Zweiten Weltkriegs entscheidend prägen sollte.Die Übertragung des Nationalstaatsprinzips auf die Dritte Welt führte zu wachsender Aufsplitterung und politischer Unübersichtlichkeit, die von den Hegemonialmächten nur begrenzt kontrolliert werden konnte. Der Konflikt Japans mit China und Korea sollte dem ostasiatischen Raum eine zunehmende Bedeutung im Konflikt der Großmächte geben. Gemessen an der fortschreitenden Durchdringung der Dritten Welt vonseiten der westlichen Industriestaaten und der wachsenden Internationalisierung von Handel und Industrie stellte die von der aufsteigenden NS-Bewegung verfolgte Zielsetzung, primär agrarischen Lebensraum im Osten zu schaffen, eine eigentümlich rückwärts gewandte Entwicklung dar, die aber bereits in der Vorkriegsepoche vom Alldeutschen Verband mit der Forderung propagiert wurde, anstelle einer Teilnahme an der überseeischen Expansion zusätzliche Siedlungsräume im europäischen Osten zu erobern.Das Kernstück der Pariser Friedensordnung, der Vertrag von Versailles, zielte darauf ab, das Deutsche Reich, das empfindliche Gebietsabtretungen hinnehmen musste, langfristig zu entmilitarisieren und ökonomisch zu schwächen, nicht zuletzt durch umfangreiche Reparationsleistungen. Es gelang jedoch nicht, die militaristischen und nationalistischen Kräfte auf Dauer auszuschalten und das deutsche Volk zur Einsicht in die weitgehend selbst verschuldete Niederlage zu bringen. Die revanchistischen Einstellungen im bürgerlichen Lager wie bei den Funktionseliten bestimmten in wachsendem Maße das innenpolitische Klima der Weimarer Republik. Sie begünstigten den Aufstieg des Nationalsozialismus, der als Protestbewegung neuen Typs die nationalistischen und antikommunistischen Ressentiments vor allem in den ungleichzeitigen Sektoren der Gesellschaft mobilisierte und zunächst im Bündnis mit den rechtsbürgerlichen Kräften an die Macht gelangte, nachdem das parlamentarische System unter dem Einfluss der großagrarischen und großindustriellen Interessen ausgehöhlt und die demokratische Arbeiterbewegung politisch neutralisiert worden war.Aus der heutigen Perspektive rücken der Erste und der Zweite Weltkrieg eng zusammen, obwohl ihre Entstehungsursachen nicht dieselben waren. Anders als 1914 steuerte das Deutsche Reich unter der Führung Hitlers zielbewusst auf eine kriegerische Aggression hin, die weit über die zunächst nach außen vertretene Revision von Versailles hinaus die deutsche Hegemonie in Kontinentaleuropa einschließlich einer gigantischen Ostexpansion erstrebte, die nun aber unter rassistischen Vorzeichen stand und mit maßlosen Umsiedlungsplänen und der Unterjochung von vielen Millionen Menschen gekoppelt war. Damit gedachte Hitler die Politik des gewaltsamen Bevölkerungsaustauschs, die vom bolschewistischen Russland bereits praktiziert wurde, in größtem Stil und mit mörderischer Menschenverachtung fortzusetzen, obwohl sie wegen des Fehlens deutschstämmiger Umsiedler und der ökonomischen Widersinnigkeit an objektive Grenzen stieß.Bekanntlich ist nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches die Methode der Massenzwangsvertreibungen im Zusammenhang mit der Westverschiebung Polens und der Restituierung der Tschechoslowakei auf die Deutschen zurückgeschlagen. Erst in unseren Tagen setzt sich die Einsicht durch, dass die Vertreibung auch für die betroffenen ost- und südosteuropäischen Länder keine dauerhaften Vorteile gebracht hat. Gleichwohl zeigen die jüngsten Vorgänge in Bosnien und Kosovo, dass die Lehren aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs noch immer nicht hinreichend begriffen worden sind. Nach der Auflösung des Ostblocks wurden — so in Jugoslawien — die älteren Nationalitätenkonflikte mit ungeheurer Wucht erneuert. Unter den Bedingungen hoch entwickelter Waffentechnik ist ihre gefährliche Sprengkraft um vieles angewachsen und sie droht, den Bestand ganzer Regionen dauernd zu gefährden.Eine unübersehbare Folge des Zweiten Weltkriegs war die Durchsetzung der sowjetischen Hegemonie über ganz Ost- und Mitteleuropa und der Sowjetisierung ihrer Gesellschaften. Der Rechtfertigungsgrund, der für die Oktoberrevolution und die leninistisch-stalinistische Herrschaft ursprünglich geltend gemacht wurde, wonach nur eine umfassende Erziehungsdiktatur die überfällige Modernisierung des russischen Raumes hätte erzwingen können, ist inzwischen längst hinfällig, da die ökonomische Expansion der Sowjetmacht auch unter normalen kapitalistischen Wachstumsbedingungen eingetreten wäre. Somit erscheint die Politik Lenins und Stalins als ein gigantischer verhängnisvoller Irrweg, der auf dem Rücken der unterworfenen Völker beschritten worden ist, wenngleich der Sowjetunion das Verdienst zukommt, die nationalsozialistische Aggression zum Scheitern gebracht zu haben. Auf erweiterter Stufenleiter blieb nach 1989 das herkömmliche Entwicklungsgefälle von West nach Ost bestehen. Die Abhängigkeit der Nachfolgestaaten des sowjetischen Imperiums von der westlichen Wirtschaft aber ist noch größer geworden, als dies für die Periode vor 1917 galt.Fünfundsiebzig Jahre Sowjetherrschaft sowie die zerstörerischen Wirkungen des Zweiten Weltkriegs und des anschließenden Kalten Kriegs haben das Gesicht Europas gleichwohl entscheidend verändert. Die modernen Kommunikationstechniken, Verkehrsmöglichkeiten und die vervielfachte Mobilität haben die einzelnen Zonen des Kontinents zueinander gerückt und die Menschen einander bekannt gemacht. Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs hat bei den davon am stärksten betroffenen Völkern ein tiefes Misstrauen gegen die Vorstellung begründet, dass politische Konflikte mit kriegerischen Mitteln gelöst werden können, und lässt den überkommenen Nationalismus weithin überholt erscheinen. Das gilt insbesondere für die deutsche Nation, die sich von dem von Hitler so erfolgreich ausgebeuteten nationalen Machtstaatsgedanken gänzlich abgewandt hat und nicht länger auf die Chimäre eines vom Westen getrennten »deutschen Wegs« setzt, die das Einleben der parlamentarischen Demokratie von Weimar so nachhaltig behindert hatte.Die Hoffnung, dass mit der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs eine »Übergipfelung des Nationalstaates« (Hans Rothfels) eingetreten sei und dass die Welt unter dem Eindruck der ungeheuren Zerstörungen und Menschenverluste in eine Epoche eintreten würde, in welcher der Krieg als Mittel der Politik endgültig ausgedient haben würde, hat sich nicht erfüllt. In Europa sind freilich kriegerische Konflikte eher als Nachläufer des zurückliegenden Jahrhunderts anzusehen, und die jugoslawische Frage ist ein beredtes Beispiel dafür. Im übrigen Europa scheint das Gespenst gewaltsamer Aggression weitgehend verschwunden zu sein. Das Prinzip des kooperativen Aushandelns von Konflikten hat in der Regel die Oberhand gewonnen, während in der Dritten Welt die Hoffnung, kriegerische Konflikte einzudämmen, noch immer Zukunftsmusik darstellt.Über die materiellen Zerstörungen und die ungeheuren Menschenverluste hinaus, die der Zweite Weltkrieg auf zwei Kontinenten nach sich gezogen hat, ist jedoch die mit dem Kriegsgeschehen verbundene Politik des Genozids, dem bis zu fünf Millionen europäischer Juden, aber auch Hunderttausende von russischen Kriegsgefangenen und Angehörige slawischer Völker zum Opfer fielen, eine unaufhebbare historische Zäsur. Die grenzenlose Freisetzung von Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung, die größerenteils gleichsam fabrikmäßig zu Tode gebracht wurde, obwohl außer dem nationalsozialistischen Rassenwahn keinerlei Antriebe zu dieser im Umfang wie der Unerbittlichkeit einzigartig dastehenden Mordaktion bestanden, verweist auf die Ambivalenz der modernen Zivilisation und relativiert grundsätzlich den Glauben an einen Sinn der Geschichte und die hegelianische Annahme eines »Fortschritts der Freiheit«. Die Schoah ist daher das zentrale Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts und bleibt im Bewusstsein der Nationen der Opfer und der Täter unauslöschliches Menetekel. Der Genozid erfolgte zwar ohne formelle Kenntnis der Öffentlichkeit, aber es waren zahlreiche Institutionen — nicht nur der SS-Apparat und die Wehrmacht — damit direkt und indirekt befasst, sodass es unmöglich wäre, die Verantwortung dafür einem eng begrenzten Kreis der Vollstrecker zuzumessen.Unzweifelhaft haben beide Weltkriege und nicht weniger die lange Periode des Kalten Kriegs in vieler Hinsicht den technischen und zivilisatorischen Wandel, der sich im zurückliegenden Jahrhundert in atemberaubender Weise vollzog, maßgeblich vorangetrieben. Die Luftfahrt, das Verkehrswesen und die Kommunikationstechniken sind entscheidend durch militärische Bedürfnisse fortentwickelt und dann dem zivilen Sektor nutzbar gemacht worden. Die Mobilitätschancen der Einzelnen sind im Zusammenhang damit vervielfacht worden, die Berührung zwischen den Völkern intensiviert, der gegenseitige Informationsaustausch optimiert worden. Die Welt ist in einem zuvor unvorstellbaren Maße zusammengewachsen, die Menschen sind sich näher gekommen.Die Entkolonialisierung und die Bevölkerungsverschiebungen des Zweiten Weltkriegs haben den Prozess zur Entstehung multiethnischer Gesellschaften in Europa und in den USA, aber auch anderswo, entscheidend vorangetrieben. Desgleichen haben Elemente der urbanen Zivilisation längst auch das platte Land erfasst, völlig abgeschiedene Provinzialität gibt es nur noch in Ausnahmefällen. Darin liegen neue anthropologische und soziale Herausforderungen, die produktiver Lösungen bedürfen. Darüber hinaus ist die rapide Entfaltung der industriellen Produktion und Produktivität mit wachsender struktureller Arbeitslosigkeit und Disproportionen der regionalen Entwicklung verknüpft, zu deren Überwindung neue Wege gegangen werden müssen.Der unterschiedliche Wohlstand in den europäischen und außereuropäischen Regionen mündet unvermeidlich in eine wachsende Migration in die reichen Länder, die durch bloße Absperrung auf Dauer nicht aufgehalten werden kann. So hält das ausklingende Jahrhundert neue Problembündel bereit, deren Bewältigung kommende Generationen in Atem halten werden. Das häufig genannte Stichwort Globalisierung verweist auf die Notwendigkeit, auf immer mehr Politikfeldern zu supranationalen und letzten Endes globalen Lösungen zu gelangen — ob dies nun die sich auftürmenden ökologischen Bedrohungen, das kaum gehemmte Wachstum der Weltbevölkerung oder die zunehmenden Migrationsströme betrifft.Demgegenüber ist das 20. Jahrhundert, das von den global ausgeweiteten nationalen Konflikten geprägt war, die sich mit einer Konstellation des Weltbürgerkriegs verknüpften, eine in mancher Hinsicht überwundene Epoche. Wie weit dies auch für die Zukunft des demokratisch-parlamentarischen Systems, das sich in der Form, aber nicht immer im Inhalt als dominante Regierungsform durchgesetzt hat, nach der tiefen Krise der Weltkriegsepoche gilt, muss füglich abgewartet werden. Hinter die einmal erreichte Partizipation der einzelnen Bürger wird man jedoch ebenso wenig zurückgehen können wie hinter das in den Nachkriegsjahrzehnten durchgesetzte Maß supranationaler Kooperation, auch wenn die Vereinten Nationen derzeit nicht immer hinreichend handlungsfähig erscheinen.Prof. Dr. Hans Mommsen, Feldafing
Universal-Lexikon. 2012.